Hintergründe
Zusammenfassung
Die Erzählung vom „Großen Austausch“ gehört in unterschiedlichen Varianten seit Jahren zu den populärsten Verschwörungstheorien. Sie ist im Internet und im Bereich der sozialen Medien weit verbreitet, wird aber auch von Vertreter*innen aus Kultur und Politik, die sich rechtskonservativen und rechtspopulistischen Milieus zurechnen lassen, vertreten. Neben Deutschland ist sie auch in Österreich und Frankreich sehr präsent. Aufgrund des Verbreitungsgrades der Verschwörungstheorie vom „Großen Austausch“ insbesondere im Internet und den sozialen Medien besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Jugendliche schon mit ihr in Berührung gekommen sind.
Aktuelle Studien (bspw. OECD 2019, Kap. 5) konstatieren einen Mangel an Lese- und Medienkompetenz und weisen darauf hin, dass es einem Großteil von Jugendlichen schwerfällt, faktenbasierte Meldungen von anderen zu unterscheiden und Quellen zu bewerten.
Weltanschaulich wird die Anschlussfähigkeit der Verschwörungserzählung vom „Großen Austausch“ durch eine Affinität zu populistischen Aussagen bei ca. einem Drittel der Jugendlichen (Shell Jugend Studie 2019) begünstigt. Davon neigen 9% als nationalpopulistisch charakterisierten Positionen zu und lehnen jegliche Pluralisierung der Gesellschaft ab, während ansonsten die Populismusaffinität mit Gefühlen von Zurücksetzung und ungerechter Behandlung steigt. Die Studie stellt fest: Die „Kritik am sogenannten Establishment (»Die Regierung verschweigt der Bevölkerung die Wahrheit« und »Der Staat kümmert sich mehr um Flüchtlinge als um hilfsbedürftige Deutsche«), der mehr als die Hälfte der Jugendlichen zustimmt, bedient offenbar ein vorhandenes Empfinden, nicht ernst genug genommen und übergangen zu werden“ (ebd., S. 16). Die Autoren der Shell Jugend Studie (ebd., S. 17) kommen zu dem Schluss: „Populismus bedient also den Wunsch nach Rückgewinnung von Kontrolle“.
Genau an diesem Punkt versucht die Verschwörungstheorie vom „Großen Austausch“ anzusetzen, indem Schuldige (Politiker/Eliten und Ausländer) benannt werden. Sie hat daher eine realistische Chance, von populismusaffinen Jugendlichen als plausibel und wahr angesehen zu werden. Dies wiederum kann zur Verfestigung eines Weltbilds führen, in dem man sich als Opfer und „die da oben“, „die anderen“ und gesellschaftliche Vielfalt und Veränderung als Bedrohung sieht. Die Ablehnung des Schutzes von marginalisierten Gruppen wird dann als legitim erachtet.
Inhalt
Die Verschwörungstheorie vom „Großen Austausch“ unterstellt „globalen Eliten“ einschließlich der deutschen Bundesregierung, einen geheimen Plan zu verfolgen, der einen sog. „Bevölkerungsaustausch“ zum Ziel habe. In der offen rechtsextremen Variante der Verschwörungstheorie wird auch der aus dem Nationalsozialismus stammende Begriff „Umvolkung“ verwendet.
Dieser angeblich geheime Plan sieht vor, dass die eigene Bevölkerung - mittels der von den Regierungen angeblich betriebenen gezielten Einwanderungspolitik - durch Geflüchtete, insbesondere durch Geflüchtete aus muslimischen Ländern, ersetzt wird. Ziel der langfristigen Operation solle sein, durch die Verdrängung der einheimischen Bevölkerung ein arbeitswilliges und höriges neues Volk zu schaffen, welches ohne Gegenwehr und Protest allen Anweisungen der Eliten folge. Weiterhin wird behauptet, die Regierung handele dabei als Teil oder in Abhängigkeit von geheimen „globalen Eliten“, welche sich durch den Austausch bereichern und/oder eine „Neue Weltordnung (NWO)“ etablieren wollten, die ihnen langfristig globale Macht und Einfluss sichere. Letztendlich solle durch den „Großen Austausch“ angeblich ein Völkermord an der „abendländisch-christlich“ geprägten Bevölkerung Europas herbeigeführt werden, wodurch neben politischer Macht und ökonomischer Gier auch noch das Motiv eines „Kulturkampfes“ eingeführt wird. Hier lässt sich exemplarisch die Verknüpfung einzelner verschwörungstheoretischer Versatzstücke zu einer umfassenden Verschwörungserzählung nachvollziehen.
Verbreitung
Öffentliche Aufmerksamkeit hat die Verschwörungserzählung vom „Großen Austausch“ im Zuge der verstärkten Fluchtbewegungen ab dem Jahr 2014 bekommen. Sie diente in der konkreten Situation als Begründung und Legitimation für die Ablehnung der Aufnahme von Geflüchteten.
Das Narrativ wird von rechtsextremen Gruppen und Parteien als Kampfbegriff verwendet und bedient Hass und Hetze gegenüber Geflüchteten und antimuslimischen Rassismus. Gleichzeitig begründet die feindselige Haltung gegenüber politischen und gesellschaftlichen Eliten, die als klandestine „Volksverräter“ gebrandmarkt werden, eine im Namen des Volkswillens zur Schau gestellte Demokratieverachtung. Schließlich bedient sie sich bei klassischen antisemitischen Verschwörungstheorien, die die globalen Eliten als gierig, machtversessen und gleichzeitig jüdisch charakterisieren.
Lanciert und verbreitet wird (und wurde) die Verschwörungserzählung vom „Großen Austausch“ maßgeblich von Gruppen, die sich der sog. „Neuen Rechten“ zuordnen. Die „Neue Rechte“ (Weiß 2017; Speit 2017, S. 117-181), die sich als intellektuelle Speerspitze in einem existentiellen Kampf um „kulturelle Hegemonie“ versteht, distanziert sich in ihren Veröffentlichungen oberflächlich vom Nationalsozialismus, um bürgerlich-konservative Kreise zu erreichen. Sie versucht so, ihre rassistischen Einstellungen zu verbergen und mit neuen Begriffen und Begründungsmustern zu kaschieren. Sie versteht sich als Sammlungsbewegung und besteht aus untereinander unabhängigen Gruppen und Individuen.
Besonders relevant ist hier die sog. „Identitäre Bewegung“ (Schaefer 2018, S. 135-154; Speit 2018), welche vor allem junge Erwachsenen aus akademischen Schichten erreichen will und sich hinsichtlich öffentlicher Kommunikation und in den Aktionsformen bewusst jugendaffin inszeniert.
Rezipiert wird „Der Große Austausch“ mittlerweile nicht nur von rechtsextremen Gruppen. Auch Rechtspopulisten bedienen sich des Narrativs. Beispielsweise wurden in der Vergangenheit in Parlamentsreden von AfD-Politikern mehrfach Anspielungen gemacht.
Auch die Querdenker- und Coronaleugner-Bewegung bedient sich in Chatgruppen und auf Demonstrationen dieser Erzählung.
Der Begriff
Geprägt wurde der Begriff durch den französischen Autor und Publizisten Renaud Camus in seinem Essay „Der Große Austausch oder: die Auflösung der Völker“, in dem er einen angeblichen Kultur- und Identitätsverlust der europäischen Nationen beklagt. Camus gilt als einer der Vordenker der „Neuen Rechten“. Die ursprünglich in Frankreich entstandene Identitäre Bewegung bezieht sich schon in ihrem Namen auf die Vorstellungen Camus‘ und gehört zu den bekanntesten Vertretern des Narrativs. In ihren Aktionen im öffentlichen Raum (z.B. kurzzeitige Besetzung des Brandenburger Tores) greifen sie das Thema auf riesigen Bannern auf und fallen regelmäßig mit Flugblattaktionen an Universitäten auf. Im publizistischen Bereich ist für den deutschen Sprachraum das sog. „Institut für Staatspolitik“ von Götz Kubitschek zu nennen, das sich als intellektuelle Avantgarde der „Neuen Rechten“ stilisiert (Weiß 2017, S. 72-81) und welches auch die deutsche Übersetzung von Camus veröffentlicht hat.
Verbindung zum Antisemitismus
Die antisemitische Komponente ist Teil der narrativen Erweiterung der Verschwörungstheorie vom „Großen Austausch“ im Sinne eines weltumspannenden Komplotts globaler Eliten zur Etablierung einer „Neuen Weltordnung (NWO)“. Diese angebliche jüdische Weltverschwörung (s.o.) kontrolliere bereits einen Großteil des Bankenwesens und steuere als geheime Finanzelite im Verborgenen die Regierungen. Weiterhin werden immer wieder in der Öffentlichkeit stehende Persönlichkeiten wie z.B. George Soros aufgrund seiner jüdischen Familienwurzeln diffamiert und auch einzelnen Politiker*innen wie z.B. Angela Merkel oder Jean-Claude Juncker wird unterstellt, insgeheim jüdisch und als Teil der geheimen Eliten zu agieren und nicht im Sinne der deutschen bzw. europäischen Bevölkerungen.
Vom Wort zur Tat
Allerdings bleibt es nicht bei bloßen Redebeiträgen oder Veröffentlichungen der rechtspopulistischen und rechtsextremen Szene. Die Attentäter von Christchurch in Neuseeland aber auch 2019 in Halle haben sich auf den „Großen Austausch“ bezogen, dies über ihre Auftritte in den sozialen Medien verbreitet und so versucht, die von ihnen begangenen Morde und Gewalttaten zu legitimieren.